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  „Arzt an Bord?“
Artikel vom: 2006-09-25
 
  In einem Seminar üben Mediziner Notfallbehandlungen im Flugzeug und lassen sich zum „Flying Doctor“ weiterbilden  
  Es ruckelt heute etwas in der Luft. Aber das ist nicht schlimm, mit dem Bordservice werden die Flugbegleiter trotzdem gleich beginnen. In der dritten Reihe macht sich eine Passagierin vorher noch auf den Weg zur Toilette. So weit schafft sie es aber nicht. Auf dem Gang sackt die Frau zusammen und bleibt regungslos liegen. Sofort eilt Kabinenchef Christian Bötte herbei. Schnell erkennt er die Lage und geht zum Mikrofon. „Wir haben einen medizinischen Notfall. Falls ein Arzt an Bord ist, bitten wir um Hilfe.“

Bötte hat Glück. Es meldet sich Dr. Eberhard Dames, ein Kinderarzt. Die Vitalfunktionen der Patientin hat er schnell überprüft, hier ist alles in Ordnung. Nachdem sie in die Bordküche gebracht wurde, geht es der Frau wieder besser. Sie habe Übelkeit und Schwindel verspürt und sei dann umgekippt, sagt sie.


Schulung auf drei Hydraulik-Stelzen

Auch die Turbulenzen haben plötzlich aufgehört. Die Passagiere klatschen, besprechen den Vorfall kurz und verlassen das Flugzeug durch den Hinterausgang. Mittagspause. Spätestens jetzt wird klar, dass es sich hier nicht um einen normalen Flug handelt. Die Kabine ist zwar echt – untergebracht im Rumpf einer ausrangierten Boeing 737 –, doch sie befindet sich nicht in 10 000 Meter Höhe, sondern ist auf drei Hydraulik-Stelzen aufgebockt.

Die Suche nach einem Arzt hätte einfacher nicht sein können: Alle dreizehn Insassen an Bord sind Mediziner – Hausärzte, Chirurgen, Herzexperten. In einem zweitägigen Seminar lassen sie sich im Condor-Kabinensimulator am Frankfurter Flughafen zum „Flying Doctor“ weiterbilden. Eine Schulung, die sie auf Notfälle in der Luft vorbereitet.

Der Dozent ist Dr. Frank Haberstroh, Orthopäde, Notfallmediziner und im Nebenjob Berufspilot – ein Fachmann also sowohl der Medizin als auch der Fliegerei. Alles ist so realistisch wie möglich.

Es geht im Simulator genauso eng zu wie in einem echten Flugzeug, das Gerät kann Turbulenzen, Feuer an Bord und Bruchlandungen täuschend echt nachstellen. Christian Bötte arbeitet tat sächlich als „Purser“, ranghöchster Flugbegleiter der Kabinenbesatzung. Wer aus dem Fenster schaut, sieht eine vom Computer erzeugte Landschaft, die gerade überflogen wird. Beim Start heulen die Turbinen auf, bei einem Zusammenprall kippt die Maschine zur Seite.

Die Notfälle sind gespielt. Zwei Kursteilnehmer helfen Bötte als Flugbegleiter, einer mimt den kranken Passagier. Hier sind schauspielerische Fähigkeiten gefragt. Ein Kreislaufzusammenbruch stellt dabei eine vergleichsweise einfache Übung dar. Krampfanfälle vorzutäuschen oder die Symptome der Unterzuckerung eines Diabetikers zu imitieren fällt schon schwerer.


Schwächeanfälle und Bruchlandung

Den Echtfall haben einige Kursteilnehmer schon einmal erlebt. Dr. Eberhard Dames passierte das drei Wochen vor dem Seminar, auf dem Weg in den Urlaub nach Gran Canaria. Ein junger Passagier erlitt nach dem Start einen Schwächeanfall. Zusammen mit der Besatzung brachte der Kinderarzt den Mann in den Küchenbereich, legte eine Infusion und beobachtete seinen Patienten bis zur Landung. „Vier Stunden Arbeit waren das, zu früher Stunde“, erinnert sich Dames – der Flug startete um 4 Uhr morgens.


Problem über den Wolken: Flüssigkeitsmangel

Ursache für den Schwächeanfall: Der Passagier hatte am Abend vor dem Abflug zu viel Alkohol getrunken, wodurch der Körper viel Wasser verlor. Ein solcher Flüssigkeitsmangel ist die Hauptursache für Notfälle in der Luft. Durch die trockene Kabinenluft verliert der Körper vermehrt Flüssigkeit. Wer das nicht ausreichend ausgleicht, kann Probleme bekommen, meist mit dem Kreislauf. Durch den Wasserverlust dickt das Blut ein, der Kreislauf verlangsamt sich, und dem Betroffenen wird es schwummerig vor den Augen. Ein fast alltäglicher Vorfall in der Luft, er tritt bei jedem 5000. Passagier ein.

Doch nicht immer sind medizinische Notfälle so harmlos. Mitunter erleiden Fluggäste auch epileptische Anfälle, Herzinfarkte oder Schlaganfälle – manchmal mit tödlichen Folgen. „Jedes Jahr sterben weltweit rund 2000 Menschen im Flugzeug“, weiß Seminarleiter Haberstroh.

Nicht nur Passagiere sind froh, wenn ein Mediziner an Bord ist. Auch für die Besatzung ist die Anwesenheit eines Arztes bei einem Notfall beruhigend.

Zwar wird das fliegende Personal in erster Hilfe geschult. Zudem statten die meisten Fluggesellschaften ihre Flieger mit einer Notfallausrüstung aus. Doch bedienen kann diese nur ein Arzt.

Für den Mediziner stellt solch eine Situation eine Herausforderung dar. Es geht sehr eng zu in der Kabine, die Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt, und als Helfer stehen meist nur Laien zur Verfügung. Zudem muss er schnell weitreichende Entscheidungen treffen, etwa, ob der Pilot den nächstgelegenen Flughafen ansteuern soll.


Bruchlandung – eine Übung, die zum Ernstfall werden kann

In der „Flying Doctor“-Schulung wird das alles penibel nachgestellt. Sogar der schlimmste aller Fälle: eine Bruchlandung. Nach dem harten Aufschlagen kommt das Flugzeug abrupt zum Stehen. Jetzt muss alles ganz schnell gehen.

Christian Bötte erinnert die Teilnehmer noch einmal daran, wo die Schwimmwesten liegen. Dann energisch das Kommando: „Raus hier!“ Die Plastikrutschen an den Türen sind bereits aufgeblasen, ein Arzt nach dem anderen gleitet hinunter.

Als Simulation in einer Halle macht das sogar Spaß. Dass der Ernstfall eintreten könnte, ist unwahrscheinlich – aber nicht ausgeschlossen. Erst im vergangenen Jahr rutschte ein Airbus A340 der Air France im kanadischen Montreal bei der Landung über die Piste hinaus in einen Graben. Die meisten der 309 Insassen konnten das Flugzeug schnell verlassen. Einige waren jedoch so schwer verletzt, dass sie mit eigener Kraft aus dem Großraumjet nicht mehr herausgekommen wären.

Sie verdanken ihr Leben einem französischen Arzt an Bord, der sie fachkundig evakuierte. Den letzten Passagier hievte er durch die Tür, kurz bevor die Maschine Feuer fing. Für den Helfer in Not war es eine Art Déjà-vu-Erlebnis. Der Mediziner hatte die Situation zuvor schon einmal geübt: im Condor-Kabinensimulator in Frankfurt. Drei Monate vor dem Unfall hatte er sich dort zum „Flying Doctor“ ausbilden lassen.

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